„Vertrauen kommt nicht aus der Luft, Vertrauen muss man sich erarbeiten“

Bemerkenswert: Trotz kränkelndem Gesundheitssystem führt Jochen Rieser seine Naturheilpraxis in Starnberg mittlerweile seit 20 Jahren. Wie bleibt eine Praxis gesund?

Manchmal wirkt das Gesundheitswesen heute mittlerweile selbst wie ein Patient mit zahlreichen Symptomen: unzureichende Digitalversorgung, Praxen-Kollaps und Klinik-Sterben. Wie kann man heute überhaupt noch eine gesunde Praxis führen? Wir haben Jochen Rieser in seiner Naturheilpraxis besucht, mit der er bereits 20 Jahre in Starnberg ansässig ist.  

Starnberger Seeleben: 20 Jahre Bestehen, davon träumt heute manche Praxis – früher war das gang und gäbe. Was hat sich so gravierend verändert?

Jochen Rieser: Die Rahmenbedungen sind heute völlig andere. Ärzte wurden weniger in Frage gestellt und das Gesundheitssystem war weniger bürokratisch. Die Zeit, die einem Arzt heute für einen Patienten bleibt, ist massiv zusammengeschrumpft. Das hängt mit erhöhtem bürokratischem Aufwand, mehr Vorgaben und der Budgetierung durch die Kassen zusammen. Außerdem sind Patienten heute durch das Internet viel informierter und damit auch kritischer.

Starnberger Seeleben: Kritischer oder fordernder? Von Ärzten und Apothekern hört man, dass der Ton rauer geworden ist, Anspruchshaltung und Ungeduld bei Patienten zunehmen – erleben Sie das auch?

Jochen Rieser: Dass Menschen heute schneller und direkter an Informationen kommen hat Vor- und Nachteile. Einerseits können sie sich auf manches Gespräch besser vorbereiten, sind besser im Thema, andererseits trifft mancher heute vorschnell eine eigene gravierende „Google“-Diagnose, die zusätzlich Angst auslöst. Die Informationspolitik in der Coronazeit und die schwierige Impfdiskussion haben außerdem eine generelle Misstrauensatmosphäre begünstigt. Das alles zehrt an den Menschen und macht sie insgesamt rauer, härter, ungeduldiger. In meiner Praxis erlebe ich das erfreulicherweise äußerst selten. Wer sich einen Heilpraktiker aussucht, hat sich meistens im Vorfeld intensiver erkundigt, Empfehlungen eingeholt und mit seinem Anliegen beschäftigt.

Starnberger Seeleben: Als Sie Ihre Praxis eröffnet haben, war Naturheilkunde für Viele noch „Plan B“, mittlerweile ist die Anzahl der Heilpraktiker bundesweit auf etwa 47.000 gewachsen*). Woran liegt das?

Jochen Rieser: Ich denke, die bereits erwähnten Veränderungen – wie z.B. das Internet und der Wegfall klassischer Hausarztversorgung – haben dazu geführt, dass andere Formen als nur die reine Schulmedizin zunehmende Akzeptanz erfahren. Medikamente werden heute mehr angezweifelt, Menschen prüfen, ob es möglicherweise zu einer Operation Alternativen gibt, und parallel wächst das Bedürfnis, sich mit natürlichen Methoden behandeln zu lassen. In den Hausarztpraxen bleibt aufgrund von Personalsituation und Bürokratie oft keine Zeit mehr für ein tiefergehendes Gespräch – in der Naturheilpraxis kommen Sie ohne gar nicht aus.

Starnberger Seeleben: Sie haben es schon angesprochen:  unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahren ziemlich durchgeschüttelt worden, Pandemie, Digitalisierung, Kriege, politische und finanzielle Unsicherheit. Nehmen vor diesem Hintergrund bestimmte Beschwerdebilder zu?

Jochen Rieser: Stress- und Erschöpfungssyndrome haben definitiv zugenommen. Das Gefühl, dass die Krisen nicht abreißen, braucht die Menschen auf. Anspannung ist zum Dauerzustand geworden. Migräne, Kopfschmerz und generelle Müdigkeit nehmen zu. Dazu kommt, dass wir alle immer „unfitter“ werden. Das hängt sicher auch mit Home-Office und weniger Bewegungsfreude zusammen.

Starnberger Seeleben: Ist auch irgendetwas besser geworden?

Jochen Rieser: Absolut. Ich sehe im Internet zum Beispiel auch etwas Positives, wir können uns heute digital schnell und direkt informieren. Auch darin, dass ein Bedürfnis wächst, die eigene Gesundheit besser zu verstehen, dass Natur an Wert für die Menschen gewinnt. Wenn ich auf meine 20 Praxisjahre zurückgucke, ist die Zusammenarbeit mit Ärzten kontinuierlich besser und intensiver geworden.  Und wenn Patienten heute der „Instanz im weißen Kittel“ weniger vertrauen und mehr Fragen stellen, ist das zwar anstrengender, aber sie sind auch aufnahmebereiter und sich ihrer eigenen Gesundheitsverantwortung bewusster.

Starnberger Seeleben: Die Heilpraktik umfasst eine Bandbreite alternativmedizinischer, vielfach traditioneller Methoden. Gibt es, wie in der klassischen Forschung und Medizin, immer wieder neue Erkenntnisse und Anwendungserweiterungen?

Jochen Rieser: Sicher, auch hier gibt es immer wieder neue Entwicklungen und Erkenntnisse, wie neue Stichtechniken in der Akkupunktur zum Beispiel. Regelmäßige Fortbildungen sind darum unverzichtbar. 

Starnberger Seeleben: Apropos Methoden: in den letzten Jahren hat auch die zu Ihrem Behandlungsspektrum gehörende Blutegeltherapie wieder eine Renaissance erfahren, warum eigentlich?

Jochen Rieser: Ich denke, es hängt mit der bereits erwähnten Suche nach natürlichen Alternativen zu konventionellen Therapieformen zusammen. Und deren wachsender Akzeptanz, sowohl bei Ärzten wie Patienten. Wer positive Erfahrungen mit dieser Therapieform gemacht hat, zum Beispiel bei Arthrose, teilt diese meist auch anderen mit und die aktive Nachfrage – sicher auch wieder dank Internet – ist gewachsen.

Starnberger Seeleben: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: in diesen 20 Praxisjahren: Was waren die größten Herausforderungen, die bewegendsten Momente?

Jochen Rieser: Das hängt beides sehr eng zusammen. Herausfordernd war am Anfang sicher, das Vertrauen von Patienten und Ärzten zu gewinnen. Das kommt ja nicht von ungefähr, das muss man sich erarbeiten. Über die Jahre ist das zu einem stabilen Fundament geworden. Aber der Verantwortung, die damit einhergeht, bin ich mir vom ersten Tag bis heute immer bewusst.  Ich setzte mich ernsthaft und intensiv mit jedem Thema auseinander und weiß, wo und wann die Grenzen von Naturheilmethoden erreicht sind und ich jemand in eine Fachpraxis oder Klinik weiterleiten muss. Gerade auch, wenn es um sehr ernste Erkrankungen geht. Die bewegendsten Momente sind immer die, wenn ich Menschen helfen kann, die mit ihrer Situation nicht mehr weiterkommen und wir gemeinsam einen Durchbruch erzielen. Das vergessen manche ihr ganzes Leben nicht und lassen mich das auch immer wieder wissen.

Starnberger Seeleben: Vielleicht doch noch eine allerletzte Frage: wenn jemand als Heilpraktiker arbeiten möchte, was sollte dieser Mensch mitbringen?

Jochen Rieser: Jede Person, die diesen Beruf ergreifen möchte, würde ich als erstes fragen, Magst du Menschen? Denn darum dreht es sich im Kern: man muss aufrichtiges Interesse an jedem Einzelnen haben. Heilpraktiker ist man nicht, weil‘s chic ist oder um dann zu arbeiten, wenn man gerade Lust hat, sondern dann, wenn jemand krank ist und einen braucht. Es ist ein wirklich erfüllender Beruf, aber man muss ihn auch selbst füllen.


*) Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (vgl. Wikipedia): Die Zahl der Heilpraktiker stieg in Bayern von rund 11.000 im Jahr 2003 auf über 23.000 Heilpraktiker im Jahr 2015.Im Jahr 2015 arbeiteten in Deutschland rund 43.000 HeilpraktikerInnen (8.000 Männer, 35.000 Frauen), heute sind es etwa 47.000 (Bund Deutscher Heilpraktiker e.V.)